Bedeutende Turniere der Schachgeschichte – eine Chronik [1]

Hoogoven, Hoogovens, Corus, Tata Steel – eine „eiserne“ Tradition feiert in Wijk aan Zee ihr 75-jähriges Jubiläum

11. bis 27.1.2013 – Ohne Kenntnis der Vergangenheit ist die Gegenwart nicht zu verstehen. Diese fundamentale Erkenntnis gilt unbestritten auch für das Jahrtausende alte Königliche Spiel. Der Schach-Ticker wird deshalb künftig eine Chronik der bedeutenden Schachturniere veröffentlichen. Der erste Beitrag dieser Serie ist aus gegebenem Anlass dem 75-jährigen Jubiläum (11.-27. Januar) der nach Hastings wohl wichtigsten Turnierserie der Welt gewidmet. Sie begann einst in der Gemeinde Beverwijk im Nordwesten der Niederlande und findet seit 1968 in dem kleinen Badeort Wijk aan Zee statt, der zu dieser Gemeinde gehört.

Ich gebe gern zu, dass mich schachgeschichtlichen Themen faszinieren, weil es sich lohnt, auf Entdeckungsreise zu gehen, selbst wenn das Ergebnis am Ende oft nur eine Fußnote ist.

Was dieses Schachfestival angeht, so ist selbstverständlich bekannt, dass es von Anfang an immer den Namen eines Stahlbetriebes trug, weil der als Hauptsponsor firmierte: Hoogoven, ab Mitte der 1980er-Jahre Hoogovens, denn der niederländische Stahl- und Aluminiumhersteller hatte nun zwei Hochöfen für die Stahlschmelzung, nach der Fusion mit British Steel im Jahre 2000 dann Corus. Und schließlich, die globale wirtschaftliche Entwicklung will es so, denn die Corus Company wird vom indischen Stahlriesen Tata 2007 übernommen, heißt es seit der 73. Auflage im Jahre 2011 nun erst einmal Tata Steel Chess Tournament.

Turnierseite
Beginn der Partien um 13:30 Uhr
Carlsen u. Anand Video
Gruppen A-B- und C
Rückblick
Partien Gruppe A
Partien Gruppe B
Partien Gruppe C

 

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Kommentierte Partien direkt von Wijk aan Zee. Zugeschickt von GM Arkadij Naiditsch. Dafür herzlichen Dank! (Eine Schachaufgabe ist dabei)

 

Heute ist dieses international hoch geschätzte Schachfestival eines der wichtigsten im Jahreskalender, und es gilt als sicher, dass die Väter der Veranstaltung vom Schachklub Bevervijk an einem Sommerabend anno 1937 einen solchen Traum kaum gehabt haben. Geplant war lediglich ein Neujahrsturnier nach dem Vorbild von Hastings, aber eher in bescheidenem lokalen Rahmen. Und selbst dieses „Kennemer Nieuwjaarstoernooi“ hatte leichte Startschwierigkeiten, denn die Premiere verzögerte sich leicht. So wurde die erste Runde mit lediglich vier Teilnehmern am 15. Januar 1938 gespielt, und die gespielten Partien von Philip Bakker, der gemeinsam mit Jilling van Dijk die Chronik der Sieger eröffnet, sowie Jan Zootjes und Piet van den Bronk sind in keiner der großen Datenbänke aufzufinden. Ganz sicher war das Ereignis halt noch zu bedeutungslos, und das in der holländischen Provinz Schachgeschichte geschrieben wurde, fiel daher erst einmal schlichtweg unter den Tisch.

Ein Blick in den Turnierkalender von 1938 hatte andere herausragende Veranstaltungen: Hastings 1937/38 (1. Samuel Reschewsky), Margate (1. Alexander Aljechin), Noordwijk (1. Erich Eliskases) und natürlich Amsterdam (bei Punktgleichheit zwischen Reuben Fine und Paul Keres wurde der Este als Sieger anerkannt). Was das so genannte AVRO-Turnier (6. bis 27. November 1938) angeht, dessen Gewinner das Recht erhalten sollte, gegen Weltmeister Aljechin ein Match um die Schachkrone auszutragen, ist es historisch gesehen wohl überhaupt das stärkste Turnier aller Zeiten gewesen. Immerhin waren die aktuellen TOP 8 der damaligen Weltrangliste vertreten.

Aber die Macher in Bevervijk ließen sich in ihrem Elan nicht aufhalten – zurecht, wie die Geschichte der „Hochofen“-Turniere beweisen sollte. In den ersten fünf Jahren wurde unverdrossen mit vier Teilnehmern in der Hauptgruppe gespielt, wobei das Interesse durchaus wuchs, wie der Sieg von Exweltmeister Max Euwe bei der 3. Auflage 1940 zeigt. Beim 4. Hoogoven-Turnier – da wurde Euwe nur Dritter– gab es bereits eine B-Gruppe mit ebenfalls vier Teilnehmern, in der Salo Landau Rang 2 belegte. Es sollte sein letzter schachlicher Auftritt gewesen sein. Infolge der faschistischen Okkupation der neutralen Niederlande war Landau als Jude gezwungen, mit seiner Frau und Tochter zu fliehen, was aber scheiterte Während seine Ehefrau Susanna und die Tochter Henriette Renne die Hölle des Konzentrationslagers Auschwitz nicht überlebten, wurde Landau ins Zwangsarbeiterlager für Juden nach Gräditz in Schlesien deportiert und dort ermordet.

Das Schicksal von Salo Landau, der in den 1930er-Jahren nach Max Euwe der beste niederländische Schachspieler war und beim WM-Kampf 1935 zwischen seinem Landsmann und Alexander Aljechin den Champion als Sekundant unterstützte, ist eine solche wichtige Fußnote, auf die ich bei meinen Recherchen zu diesem Beitrag gestoßen bin. Es sind im wahrsten Sinn des Wortes die Geschichten hinter den nackten Turnierergebnissen, die es gilt, zu entdecken und öffentlich zu machen!

Was die Veranstaltungen in Beverwijk angeht – lediglich die im Jahr 1945 musste ausfallen – , so nahmen im Laufe der Zeit nicht nur die Teilnehmerzahlen zu, sondern es wechselte auch der Modus bis hin zum K.o.-Format in den 1990-er Jahren. Aber letztlich haben sich die Rundenturniere – seit 1980 wird die A-Gruppe stets mit 14 Aktiven bestritten – doch durchgesetzt.

Und natürlich sind Beverwijk und nach dem Umzug Wijk aan Zee längst von Mitte bis Ende Januar zum Mekka des internationalen Schachs geworden. So haben sich bis auf Wassili Smyslow und Robert James Fischer, der allerdings im Gegensatz zum Russen niemals bei dem traditionellen Wettbewerb am Start war, alle Weltmeister im Klassischen Schach nach 1945 mindestens einmal Platz 1 belegt.

Und wer weiß, vielleicht wird man das auch einmal von Magnus Carlsen oder Hikaru Nakamura schreiben können. Der inzwischen 22-jährige Norweger schaffte 2008 bei der 70- Auflage durch seinem geteilten Turniersieg mit Levon Aronjan, dem diesjährigen Titelverteidiger, unwiderruflich den Durchbruch in die absolute Weltspitze. Und auch für den Amerikaner war Platz 1 drei Jahre später beim nun unter der Flagge von Tata Steel laufenden Wettbewerb quasi der Ritterschlag in der High Society des Schachs.

Apropos 2008: Wesselin Topalows unglaubliches Springeropfer 12.Sxf7!? (Siehe Diagramm) gegen Wladimir Kramnik schaffte es als Diagramm auf die Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Januar. Und ebenso unvergessen dürfte die Gedenkminute im Dorpshuis de Mariaan für den tags zuvor in seinem selbstgewählten isländischen Exil in Reykjavik verstorbenen elften Schachweltmeister Bobby Fischer gewesen sein. Peter Doggers, der inzwischen einer der wichtigsten Schachjournalisten ist, hat diesen ergreifenden Moment in Videoaufnahmen festgehalten, die im Internet abzurufen sind (www.chess.vibes.com/personal/bobby-fischer-passed-away/langswitch_lang/en/ .

Einen sehr lesenswerten und ebenso informativen persönlichen Beitrag über „Eine ‚eiserne Tradition“ hat John van der Wiel, der in den 1980er-Jahren der zweitbeste Spieler in den Niederlanden war. Er wurde im Heft 4/210 des kulturellen Schachmagazins KARL veröffentlicht, dessen Schwerpunktthema Schach in den Niederlanden war. Ich kann nur raten: Unbedingt Kontakt zum Verlag aufnehmen und diese Ausgabe entweder per Email unter aeltere_ausgaben@karlonline.org oder direkt telefonisch bei Karl-Verleger Harry Schaack unter 069 – 54 79 74 bestellen!

Wer sich dazu für die Statistiken aus den bisher 74 Turnieren interessiert, der kann sich alle möglichen Informationen auf der Turnierwebsite http://www.tatsteelches.com unter dem Link History holen. So erfährt er beispielsweise das Johannes Donner die meisten Partien gespielt hat – es sind genau 298 – und mit 85 Siegen auch die meisten vollen Punkte holte. Was die Anzahl der Turniersiege angeht, so ist der amtierende Weltmeister Viswanathan Anand, der auch beim Jubiläum in Wijk aan Zee dabei sein wird, mit fünf (dreimal geteilt) in der Großmeister A-Gruppe alleiniger Spitzenreiter. Mit seiner Serie von 70 Partien in Folge ohne Niederlage zwischen 1998 und 2004 hält der Inder einen weiteren glänzenden Rekord.

Ein Besonderheit ist unbedingt noch mitzuteilen. In den Kriegsjahren waren die Erbsensuppe-Mahlzeiten berühmt. In seinem Buch Hundert Jahre Schachturniere , das 1964 bei W. TEN HAVE N. V. , Amsterdam, erschien, schreibt Dr. P. Feenstra Kuiper dazu: Nach Heine sagten wahrscheinlich die Schachmeister:

Ich wollte, meine Partien

Das wären Erbsen fein.

Da kochte ich Erbsensuppe,

Die sollten köstlich sein.

 

Dass das Hülsenfrüchtegericht auch heute in Wijk an Zee der „Renner“ ist, muss nicht besonders betont werden. Der Grund dafür ist höchst plausibel: es ist sehr schmackhaft und noch dazu preiswert. Ob der Weltranglistenerste Magnus Carlsen, für den das Jubiläums-Schachfestival gewissermaßen die Generalprobe für das WM-Kandidatenturnier in London ist, das genau zwei Monate später in London beginnt (14. März bis 1. April), auch schon einmal Erbsensuppe gelöffelt hat, weiß ich allerdings nicht. Und ihm wird es auch völlig egal sein, dass man seit 2011 Tata Steel Turnier sagen muss. Eher skeptisch optimistisch sieht das John van der Wiel, dem ich abschließend noch einmal das Wort geben möchte: „Was ist das für ein Name? Immerhin setzt Tata auf noch mehr blutjunge Teilnehmer, vor allem in der B- und C-Gruppe! Wegen des indischen ‚Schachbooms“ und mit Anand als Weltmeister so sieht die Zukunft des Turniers rosig aus. Ein Problem sehe ich allerdings für eine Veranstaltung mit so vielen Superlativen: Was können die Organisatoren zum 75-jährigen Jubiläum 2013 noch Besonderes erfinden?“

Nun, lieber John, lassen wir uns doch einfach überraschen! Was die deutschen Schachfans angeht, so können die sich zumindest erst einmal freuen, denn Arkadij Naiditsch (Foto) ist in der Setzliste der B-Gruppe auf Platz 1 geführt. Sollte er diesen Rang in Wijk aan Zee dann am Ende auch belegen, so sehen wir ihn 2014 in der A-Gruppe wieder. Zuzutrauen wäre es ihm jedenfalls…

 

Raymund Stolze

 

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